Bach: Fragen der Aufführungspraxis bei der h-moll Messe Besetzung, Aussprache, Vibrato, Bach als komponierender Theologe, Zahlensymbolik, Tonartensymbolik
© Hartmut Haenchen, August 2009
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Wenn die Vermutung stimmt, dass die erste Gesamtaufführung der h-Moll-Messe erst am 12.2.1835 mit nicht weniger als 160 Choristen der Berliner Singakademie unter Carl Friedrich Rungenhagen (bei der Matthäus-Passion waren es sogar 320) stattgefunden hat, dann ist Bachs Utopie einer vollständigen Aufführung seines Werks erst 100 Jahre nach der Entstehung Wirklichkeit geworden – und die Bandbreite »authentischer Besetzungen« sehr groß. Auch Bachs berühmter Antrag zur »wohlbestallten Kirchenmusik« stellt eher ein den Leipziger Umständen geschuldetes Minimalprogramm dar, so dass die dort angegebene kleine Besetzung sicher nicht die Idealbesetzung ist. Die Wahrheit liegt – wie so oft – dazwischen. Man muss in aller Deutlichkeit feststellen: die oftmals gefeierten »authentischen Besetzungen« gibt es nicht: weder war seinerseits der Kammerton einheitlich (und der heute international genormte einheitliche Kammerton für Alte Musik ist somit ohnehin für die Mehrzahl der Werke vollständig stilwidrig), noch waren Stimmbildung und Instrumentalausbildung identisch. Vor allem aber haben wir heute kein »authentisches« Publikum. Unsere Bildung differiert zu der in früheren Zeiten, wir leben mit anderen optischen und akustischen Reizen. Um also den Willen eines Komponisten Alter Musik nachvollziehbar zu machen, braucht es eine Aufführungspraxis auf Grundlage aller zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, die aber entsprechend den Hörmöglichkeiten und -gewohnheiten heutiger Menschen gewissermaßen übersetzt ist. Dazu gehört vorab, dass – um beim Beispiel der h-Moll-Messe
zu bleiben – h-Moll auch als h-Moll gespielt wird; folgte
man dem derzeit üblichen Kammerton für Alte Musik wäre
dies gis-Moll. Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts aber lebt
von der Tonartencharakteristik und den sich daraus ergebenden
Gegensätzen. Auch für die Mehrzahl der Menschen ohne
absolutes Gehör, richtet sich die Tonartenempfindung unbewusst
nach dem vertrauten Kammerton, also jenem Kammerton, mit dem man
aufgewachsen ist. Somit ist der heutige Kammerton auch die Grundlage
heutiger Musikempfindung. Schließlich schärfen die architektonischen Zusammenhänge
den Blick für die Tempoverhältnisse: Ein Viertel eines
Taktes aus dem 1. Teil wird zur Hälfte eines Taktes im 2.
Teil; ein ganzer Takt des 3. Teiles wird zum ganzen Dreiertakt
des 4. Teiles, dieser wiederum wird zum Grundschlag der Halben
des 5. Satzes und verdoppelt sich zum 6. Satz. Im anderen »barocken
Seitenflügel« werden die halben Takte des 6. Satzes
zum halben Takt des 7. Satzes und diese markieren wieder zum ganzen
Takt des 8. Satzes und halbieren sich schlussendlich zum 9. Satz.
In Bachs Zeit war dieses Verfahren unter dem Begriff »integer
valorum« bekannt. Der gesamte Verlauf von »Symbolum
Nicenum« basiert also trotz unterschiedlichster Charaktere
der Einzelsätze auf einem gemeinsamen Tempo-Grundschlag und
schafft somit eine übergreifende Großform. Selbstverständlich sehe ich in der Tilgung der Zusätze von Carl Philipp Emanuel in der Ausgabe von Rifkin zwar eine gute wissenschaftliche Grundlage, nicht aber eine Verbesserung am Werk in jedem Fall. Denn der Sohn hatte ja beim Ausschreiben der Stimmen mitgearbeitet (was Rifkin sehr schön dokumentiert) und hat dabei möglicherweise auch Details direkt von seinem Vater bekommen, die dieser selbst nicht schriftlich festgelegt hatte. Wie schon in der »Johannespassion« differiert auch die von Johann Sebastian niedergeschriebene Partitur der h-Moll-Messe zu den Stimmen. In ihnen finden sich Interpretations-Anweisungen, die über die Partitur hinausgehen, weswegen das Partitur- Manuskript nicht die alleinige Quelle für meine Aufführung sein kann. Zu berücksichtigen sind Details, die hier nicht oder unklar vorhanden sind, beispielsweise die »Inégalité« in den Flöten in »Domine Deus«, wo in der Neuen Bach-Ausgabe auch eine falsche Besetzungsanweisung steht, nämlich nur eine Flöte, an Stelle von »Flauti« (also zwei), oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die falsche Übertragung von Artikulationen im »Et in spiritum sanctum« Insofern ist es zwingend, wichtige Informationen von Carl Philipp Emanuel Bach einzubeziehen. Ich habe deshalb eigenes Aufführungsmaterial vorbereitet, es berücksichtigt die Musizierpraxis der Zeit Bachs und – wo es den Absichten von Vater Bach nicht widerspricht – das Wissen und die Veränderungen des Sohnes mit verwendet. Aussprache des Lateinischen bei Bach Immer wieder stellt sich die Frage nach der Aussprache der lateinischen Texte. Ursprünglich hatte jede Gegend in Europa seine eigenen Regeln. Erst im 20. Jahrhundert setzte sich von Italien aus die italienische Aussprache durch. Verstärkt durch viele internationale Aufführungen erfuhr die lateinische Sprache eine phonetische Normierung, die heute auch in der »authentischen Aufführungspraxis« als Regel gilt, was insofern bemerkenswert ist, als ja mit der Einheitlichkeit auch eine Vereinfachung einherging. Beim genauen Hinsehen jedoch lässt die Mehrzahl der Werke erkennen, welchen Aussprache-Regeln der Komponist folgte, die ja in erheblichem Maße das Klangbild der Komposition beeinflusst. (Auch andere, in hohem Maße überlieferten Zeugnisses belegen, welche Aussprachen in den jeweiligen Kirchen üblich waren.) Auch Bach war eindeutig. In der h-Moll-Messe gibt er überwiegend die vierteilige Verteilung des Wortes »e-le-i-son«an. Diese Schreibweise sowie andere Beispiele verlangen eindeutig eine »deutsche« Aussprache, die für den Gesamtklang des Vokalparts große Folgen nach sich zieht. Vibratofragen Kernfragen, die heute in vielen Ensembles für alte Musik
einseitig behandelt und pauschal betrachtet werden, scheinen zum
anerkannten Standard einer »historischen Aufführungspraxis«
zu werden. Zu ihnen gehört das durchgängige non-Vibrato-Spiel.
Man beruft sich auf Leopold Mozart: »Es gibt schon solche
Spieler, die bey ieder Note beständig zittern, als wenn sie
das immerwährende Fieber hätten.« Wolfgang Amadeus Mozart bestätigt den Gebrauch des Vibratos bei den Sängern und allen Instrumentalisten: »... die Menschenstimme zittert schon selbst – aber so – in einem solchen grade, dass es schön ist – dass ist die Natur der stimme. Man macht ihrs auch nicht allein auf den blas=instrumenten, sondern auch auf den geigen instrumenten nach – ja so gar auf den Claviern –.« Ähnliche Argumente finden sich ebenso in Bachs Zeit oder selbst weit davor. So suchte beispielsweise Johann Krüger schon 100 Jahre vor Bach seine Knaben danach aus, ob sie ein gutes Vibrato singen konnten. Diese Forderung nach einem guten, variablen und als Verzierung eingesetztem Vibrato setzt sich bei allen Gesangschulen und den großen Instrumentalschulen fort, da ja das höchste Ziel des Instrumentalspieles war, die Gesangsstimme nachzuahmen. Bach der komponierende lutherischer Theologe Trotz der langen Entstehungsgeschichte der h-Moll-Messe, deren Existenz als einheitliches Gesamtwerk lange Zeit angezweifelt wurde, ist für mich das Gesamtwerk und die Notwendigkeit, es als solches aufzuführen, immer stärker hervorgetreten. Die erste von mir dirigierte Aufführung der Missa (also tatsächlich nur das von Bach so bezeichnete Teil-Werk von »Kyrie« bis »Cum sancto spirito«) stand noch ganz unter der Beweisführung von Friedrich Smend, die ja auch heute noch in der Eigenständigkeit der “Missa« durchaus Berechtigung hat. Inzwischen erschloss sich mir die Bedeutung von »Pleni sunt coeli« und »Osanna« als die musikalischen Bindeglieder für eine von Bach offensichtlich langfristig geplanten großen Zusammenhalt der Einzelteile: Am Ende des »Pleni« steht bereits das »Osanna«- Thema im Bass. Deswegen braucht es auch kein Vorspiel zum »Osanna« (wie in der Parodievorlage BWV 215). Bach nutzt es hier als Nachspiel. Die Gesamtaufführung einer Messe dieses Ausmaßes musste für den Komponisten in weiter Ferne gerückt bleiben, denn in der lutherischen Kirche gab es keinen Platz für eine solche Komposition, und in der katholischen Kirche wäre damals – wie teilweise heute – eine mit lutherischen Elementen versehene Messe undenkbar. Trotzdem hat Bach die Idee einer Gesamtaufführung durch die Zusammenfügung einzelner Sätze, welche einzeln teilweise auch aufgeführt wurden, an spätere Generationen überliefert. Interessant ist zunächst zu verfolgen, wie ein Protestant
den im Prinzip katholischen Messe-Text für seine Komposition
modifiziert und ihm schließlich einen eindeutig protestantischen
musikalischen Charakter gibt. Entsprechend der lutherischen Anwendung
des Messetextes verändert Bach im »Pleni sunt coeli«
»gloria tua« in »ejus« (ersteres wäre
in der lutherischen Kirche nur an hohen Festtagen möglich)
und die nach der lutherischen Liturgie übliche Abweichung
»altissime« im Text des »Domine Fili unigenite,
Jesu Christe, altissime«. Wie ein protestantisches Signum
beginnt Bach sein Werk mit dem Zitat aus Luthers »Deutsche
Messe« von 1525 als Grundlage für sein Kyrie, die Spitzentöne
d, e, fis, fis, g, fis, fis des lutherischen »Kyrie«
greift Bach wörtlich wieder auf. Auch andere lutherische
Liturgie-Formeln verwendet Bach ganz bewusst in seinem musikalischen
Material. Die »Credo«- Formel zitiert Bach ganz wörtlich
und stellt sogar damit den theologischen Zusammenhang mit dem
»Confiteor« her, wo diese Formel ebenfalls verwendet
ist. Der trinitarische Gedanke Trotz – oder gerade wegen – der zahlreichen Parodien erster und zweiter Ordnung in der h-Moll-Messe tritt uns Bach unverhohlen als Theologe entgegen. Nirgendwo ist die trinitarische Theologie (Einheit von Gott-Vater, Christus-Sohn und Heiliger Geist) so verankert und teilweise so verschlüsselt. Im »Christe eleison« wählt Bach die Form des Duetts, um die zweite Person der Trinität (Sohn) deutlich zu machen. Gleiches gilt für das »Domine Deus« dem aber durch zusätzliche Flöten eine Trio-Besetzung hingefügt ist. Der Hauptrhythmus setzt sich aus drei Noten zusammen, denen eine weitere im Gesamtwert dieser drei vorausgegangenen Noten folgt. Das ist das musikalische Symbol für die Trinität. Das Motiv kommt immer drei Mal hintereinander und das Duett hat 3 Mal 30 Takte. Auch in der Parodie der Kantate BWV 46 »Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei« herrscht die trinitarische Ordnung: Im Tenor steht 3 x 3 x 3 der Text. »Et in unum« ist theologisch insofern besonders interessant
als die 2. Stimme (Christus) aus der 1. Stimme (Gott) hervorgeht,
wodurch eine unglaubliche musikalische Allegorie entsteht. Inhaltlich
steht das schon in der »Parodie« bei der Kantate »Herkules
am Scheidewege« zum Text »Ich bin deine, du bist meine«.
Auch hier liegen die Einheit und gleichzeitig Unterschiedlichkeit
zweier Personen übereinander. Musikalisch sind sie gleich,
nur die Artikulationen sind verschieden. Für den Interpreten
ist ein wichtiger Hinweis, mit unterschiedlichen Artikulationen
sehr sorgfältig umzugehen und sie nicht, wie heute oft üblich,
anzugleichen. Aber auch die Instrumentation folgt dem trinitarischen Gedanken. Fünf dreistimmige Klangkörper von Trompeten, Oboen (deswegen ist nur hier eine dritte Oboe nötig), Streicher, 2 x 3 Vokalstimmen und Continuo entspricht 6. Dies symbolisiert die sechs Flügel der Seraphim (sechstimmiger Chor), Pauken in den ersten 6 Takten 6 Schläge bis Takt 3 x 6 x 6. Im »Crucifixus« erscheint zwölf Mal (3x4) das Chaconne-Thema im Bass. Beim 13. Erscheinen ist das Thema verändert. Die Zahl 13 war die teuflische Zahl und entstand aus der Störung der Zwölf, die das göttliche Gleichgewicht symbolisierte. Weitere Zahlensymbolik In unserem heutigen gesellschaftlichen wie kirchlichen Leben spielt die Zahlensymbolik längst nicht mehr die Rolle, wie es zu Bachs Zeiten der Fall war. Die bewusste Wahrnehmung in Bachs Zeit von dergleichen musikalischen
Vorgängen unterscheidet sich also grundsätzlich –
wie anderes – zu unserer Zeit. Für den Interpreten
aber erschließen das Wissen um diese Grundlagen wichtige
Einsichten in die Struktur des Werkes und stützen seinen
Interpretationsansatz. Tonartensymbolik In der theoretischen Schrift »Tota Musica et Harmonia Aeterna« (Erfurt 1716) von Johann Heinrich Buttstedt, auch Lehrer des Bruders von Johann Sebastian Bach und von Bachs Freund J.G.Walther wird bestätigt, was wir bei Bach immer wieder finden: der Dur-Dreiklang stellt die göttliche Person Jesu Christi dar und der Moll-Dreiklang die menschliche Person Jesu Christi. Bach hält sich konsequent an diese Grundlage der Tonartenwahl. Oben habe ich bereits die konsequente Tonartenstruktur an Hand des »Symbolum nicenum« dargelegt. Die Titel-Tonart h-Moll und andere Molltonarten heben also in neun Sätzen ausdrücklich die menschliche Seite, das menschliche Sein von Christus hervor. Die göttliche Seite liegt vor allem in der himmlischen Tonart D-Dur; insgesamt 16 Sätze in Dur-Tonarten machen das göttliche Übergewicht der Komposition deutlich. Bach vollbringt im Adagio »Et expecto« das Wunder, in 24 Takten tatsächlich den gesamten Quintenzirkel (24 Tonarten) zu durchschreiten, um die totale Verwandlung des menschlichen Seins durch die Auferstehung musikalisch darzustellen. Innerhalb dieser Tonartensymbolik verbirgt sich als weitere Besonderheit das Symbol des auf der Seite liegenden Kreuzes (gleichzeitig das x des Anfangbuchstabens von Christus), welches entsteht, wenn man zwischen den thematischen Tönen der Instrumentaleinleitung des »Et incarnatus« cis- d (seitwärts) und ais- h (aufwärts) eine Verbindungslinie zieht. Die mit den Tonarten verbundene Affektenlehre, die zahlreiche andere musikalische Strukturen einbezieht, macht verständlich, wieso relativ einfach Parodien selbst innerhalb eines solchen Meisterwerkes möglich sind. Die »ewige Herrlichkeit« des Kantatensatzes aus Nr. 120 »Jauchzet ihr erfreuten Stimmen« macht durch den gleichen Affekt eine Verwendung für das »et expecto« mühelos nutzbar wie auch die Form des Concerto grosso a-b-a-b-a des »Cum Sancto Spiritu«. welches seine Urform in der Weihnachts-Kantate Nr. 191 hat. Auf diese Weise ließen sich alle Parodie-Verfahren bei Bach begründen. Auffallend ist auch die Parodie des Chores der Kantate Nr. 12 »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen«, der zweifellos den gleichen Affekt von Trauer und Schmerz transportiert, wie das »Cruzifixus«. Hierfür hatte Bach eine musikalische Idee von Antonio Vivaldi aus einem traurigen Liebeslied verarbeitete. Oft wurde es als Flüchtigkeit oder Eile Bachs interpretiert, dass er für den Schlusschor des Gesamtwerkes eine Parodie 2. Grades verwendet. Auffallend ist jedoch, dass das Wort »pacem« sehr oft wiederholt wird. Es ist eindeutig, dass Bach damit seine Friedens-Utopie extra betont, die Bitte um Frieden wird zum Lobpreis Gottes durch die bewusste Parodie des »Gratias«. Instrumentation als theologisches Symbol Blechblasinstrumente standen immer als Symbol für die göttliche Welt. Deswegen ist im »Quoniam tu solus sanctus« auch ein Corno da caccia als solo-instrument besetzt. In den ersten 2 Takten werden 5 Töne des Hornsolos gespiegelt und binden die Oktave als Sinnbild der Totalität Gottes als Eckpunkte ein. Aus diesem Prinzip erklärt sich auch, warum Blechbläser nicht in den Mollsätzen verwendet werden. index |